Engel auf der Landstraße
Esther Dymel-Sohl
„PS: Engel sollen dich begleiten.“ So endet der Weihnachtsgruß, den ich in den Händen halte. Freude durchströmt mich vom Kopf bis zu den Fußspitzen. Wie unendlich wohltuend sind seine lieben Worte. Eine kleine Engelfigur aus Messing hat er mitgeschickt. Ich lasse sie in meine Tasche gleiten. Eine schöne Erinnerung an einen lieben Menschen und seine Segenswünsche. Ja, Engel sollen mich begleiten.
„Komm Junge, sieh zu, dass du fertig wirst“, rufe ich ungeduldig. Wie so oft stehe ich gestiefelt und gespornt im Hausflur und warte darauf, dass mein Sohn sich endlich die Treppe herunterbequemt. „Wie findest du mein Styling?“, fragt er mich stolz und zeigt auf seine verklebten Haare. Mein Ärger ist verflogen. „Du siehst toll aus“, rufe ich lachend und gebe ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. „Bist du sicher, dass du mitkommen willst?“, will ich wissen. Immerhin ist es schon 21.45 Uhr und eigentlich gehören 10-jährige Jungs um diese Zeit ins Bett. Doch es sind Weihnachtsferien und er möchte unbedingt mit und seinen Bruder vom Jugendtreff abholen. Wir gehen zum Auto. Die Luft ist kalt, irgendwie nasskalt. Der Fußweg ist glatt. Mit kleinen Tippelschritten erreichen wir unser Fahrzeug. Ich muss vorsichtig fahren.
Wir biegen auf die Hauptstraße. Kein anderes Auto ist weit und breit zu sehen. Die Bürgersteige sind menschenleer und nur der Frost spiegelt sich im Licht der Scheinwerfer. Das Radio dudelt Weihnachtslieder. Morgen ist Heiligabend und weihnachtliche Vorfreude macht sich breit. Ach, wie schön ist die Weihnachtszeit. „Mama, ist das nicht dein Lieblingslied?“ Mein Junge macht die Musik lauter. „Darling, you look wonderful tonight“, singt Eric Clapton und ich stelle mir vor, dass ich gemeint bin. Ich fühle mich wohl. Ein schöner Abend, ein wunderbares Lied und ein süßer Fratz neben mir. Wenn es nur nicht so glatt wäre.
An der nächsten Ecke biege ich links ab. Die Straße ist nicht beleuchtet und führt durch einen kleinen Wald. Nur der Mond taucht die Bäume in sein fahles Licht. „Bist du angeschnallt mein Schatz?“, will ich wissen. Kleinlaut legt mein Sohn schnell den Sicherheitsgurt an. Schon wieder vergessen. Nächstes Mal fahre ich erst los, wenn er angeschnallt ist, nehme ich mir fest vor. Ganz tief in mir kommt Unruhe auf. Ich fahre langsam. Nur 40 Stundenkilometer. Gleich kommt eine S-Kurve. Ich muss noch langsamer werden. Der Asphalt glitzert vor Nässe. Oder ist es Eis? Ich bremse ganz leicht. Stimmt etwas mit der Lenkung nicht? Ich bin irritiert. Warum fährt das Auto so merkwürdig? Oder sind die Reifen defekt? Das Fahrzeug schlingert und der Graben kommt immer näher. Ich muss gegenlenken! Wie kann ich nur das Auto wieder unter Kontrolle bringen? Der Wagen schlägt immer wilder aus. Unmöglich! Wir schlittern unkontrolliert über die Landstraße. Wenn uns jetzt einer entgegenkommt! „Mama!“, höre ich meinen Sohn rufen. „Oh Gott, hilf“, ist das letzte, was ich noch über die Lippen bringe, bevor sich der Wagen überschlägt. Alles passiert rasend schnell und doch schaltet mein Empfinden auf Zeitlupe. Mit ist, als ob jemand das Auto hochhebt, umdreht und dann wieder ganz sanft mit dem Autodach zuerst im Graben absetzt. Wie von Ferne höre ich, wie die Glasscheiben zerspringen und das Blech mit einem unheilvollen Knirschen zusammengedrückt wird. Dann folgt die Stille. Totenstille. Nur Eric Clapton singt immer noch.
„Mama, wie kommen wir aus den Gurten wieder heraus?“, will mein Junge verzagt wissen. Kopfüber hängen wir nebeneinander in unseren Sitzen. Gott sei Dank waren wir beide angeschnallt! Wir können die Gurte öffnen und plumpsen auf das Dach. Hier sitzen wir, erschrocken über das Passierte und glücklich über das, was nicht passierte. Ich taste nach meinem Handy und wähle 110. Die Türen lassen sich nicht öffnen. Wir warten. Die Enge ist beängstigend. Wie gut, dass das Radio noch an ist und die unerträgliche Stille vertreibt. „Nicht ausmachen bitte!“ Wann wird Hilfe kommen? Ich höre es rascheln. Mein Kleiner strahlt von einem Ohr zum anderen, als er eine große Tüte mit Pralinen hervorkramt, die er heute geschenkt bekommen hat. „Was’n Glück, dass die noch da sind!“ „… you look wonderful tonight“, singt Eric Clapton ein letztes Mal, als wir uns die Süßigkeiten in den Mund stopfen. Wenn wir hier schon sitzen müssen, dann wenigstens mit schöner Musik und guter Schokolade.
Nach einer halben Stunde werden wir gerettet. „Na, heute feiern Sie aber Ihren zweiten Geburtstag“, begrüßt uns der Feuerwehrmann und schaut sich das völlig zerstörte Fahrzeug an. Nur meinem Jungen und mir ist nichts passiert. Engel haben uns begleitet. Und meine Finger umfassen glücklich den kleinen Messingengel, der mich daran erinnert.
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