Ein anderer Blickwinkel
Von Esther Dymel-Sohl
Die Glocken läuten. Die Sonne strahlt mit dem Brautpaar, das gerade aus der Kirche schreitet, um die Wette. Wunderschön sieht sie aus, die Braut in ihrem seidenen Kleid. Liebevoll hält ihr Mann ihre linke Hand. In der rechten unterstützt ein Gehstock ihren Gang. Langsam gehen die beiden und genießen die Blicke der Passanten, die sich neugierig vor der Kirche versammelt haben, um einen Blick auf das Brautpaar zu werfen. Doch manche sind irritiert und starren auf die Gehhilfe.
Die geladenen Gäste verlassen die Kirche als Geleit. Alle sind noch ganz ergriffen von der feierlichen Atmosphäre in dem hohen Kirchenschiff. Selbst die Kinder haben wie gebannt auf ihren Kirchenbänken gesessen, voller Staunen über die bunten, hohen Fenster und den endlos scheinenden Hall. „Es dauert sieben Sekunden, bis das gesprochene Wort des Pastors die letzte Reihe erreicht“, klärt der 10-jährige Jonas seinen 7-jährigen Bruder Max auf und streckt dabei voller Stolz über sein Wissen seine Nase ein bisschen zu hoch in die Luft. „Das weiß ich doch längst“, kontert Max und verpasst ihm mit dem Ellenbogen einen leichten Knuff in die Rippen. Doch die Brüder vertiefen ihre Auseinandersetzung nicht weiter, sind sie doch viel zu aufgeregt. Immerhin ist es ihr Onkel, der gerade geheiratet hat. Auch wenn sie sich einig sind, das der mit seinen fünfzig Jahren viel zu alt für solche Sachen ist.
Gleich neben der Kirche ist das „Storchennest“, ein gemütliches Weinlokal, das mit seinem alljährlich wiederkehrenden Storchenpaar auf dem Dach in der ganzen Umgebung in aller Munde ist. Auch heute sitzt die Storchenmutter im Nest und beobachtet neugierig die Hochzeitsgesellschaft. Für den Sektempfang wurde alles im ersten Stock des Lokals hergerichtet. Auch die weitläufige Dachterrasse wurde für die Hochzeitsgäste geschmückt. Rote und cremefarbene Rosen zieren fast verschwenderisch die schneeweißen Tischdecken. Das Brautpaar schreitet die breite Treppe hinauf in den Festsaal. Langsam, als ob es die bewundernden Blicke aller Anwesenden ein wenig länger auskosten möchte.
Vor zehn Jahren erkrankte die Braut an Multipler Sklerose. Trotz dieser Diagnose war sie sich sicher: Niemals wollte sie sich ihre unbändige Freude am Leben nehmen lassen. Und so blieb sie optimistisch, auch als die Kraft und Koordination in den Beinen schleichend abnahmen und sie schon so manches mal gestolpert und gefallen war. „Nur Fledermäuse lassen sich hängen“, war ihre Devise, selbst als der Gehstock ihr ständiger Begleiter wurde.
Nach und nach strömen auch die geladenen Gäste in den ersten Stock. Freundliche Kellnerinnen verteilen prickelnden Champagner. Klaviermusik erfüllt den Raum. Ein piekfeiner Herr mit Anzug und Fliege spielt selbstversunken die schönsten Liebeslieder.
Max und Jonas sind noch am Fuße der Treppe. Vor ihnen sitzt eine junge Frau im Rollstuhl. Ihr Partner steht neben ihr und fragt, ob er ihr beim Treppensteigen helfen könne. „Danke Liebling, das geht schon“, gibt sie zurück, umfasst beherzt das Geländer und zieht sich mit einem Ruck hoch. Ihr Mann trägt den Rollstuhl hoch in den Festsaal. Auch die junge Frau hat MS. Sie hat sich mit der Braut auf einer Reha-Maßnahme angefreundet und ist glücklich, dass sie die Hochzeit heute miterleben darf. Langsam, ja fast in Zeitlupe zieht sich die junge Frau die Treppe hoch. Stufe für Stufe. Max und Jonas gehen hinter ihr her. Sie drängeln nicht, sie schubsen nicht, sie piesacken sich auch nicht gegenseitig. Sie gehen einfach hinterher. Die anderen Gäste, die noch am Fuße der Treppe warten, schauen der jungen Frau mitleidig zu. Sie tuscheln: „Die Ärmste! Noch so jung und schon so….!“ Doch die junge Frau tut, als hörte sie das nicht. Sie will kein Mitleid. Sie will sich ihre Freude über die Hochzeit ihrer Freundin nicht verderben lassen. Und so beißt sie die Zähne zusammen und zieht sich weiter hoch. Stufe für Stufe.
Oben angekommen, will sie sich gerade wieder in ihren Rollstuhl fallen lassen, als Max sie von hinten antippt. Erstaunt dreht sie sich zu dem Jungen um.
„Mensch, du“, sagt der 7-jährige. „Ist das nicht toll?“
„Was denn?“, will die junge Frau wissen.
„Ist das nicht toll, dass du das noch kannst? Dass du dich die ganze lange Treppe mit all den vielen Stufen noch hochziehen kannst?“
Und dabei strahlt Max sie an, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt.
Freude macht sich breit, genau hier an der Treppe. Die mitleidigen Blicke zählen nicht mehr, denn der Junge konnte ihr ins Herz schauen. Auch die junge Frau ist glücklich. Ihre Augen leuchten als sie antwortet:
„Ja, das finde ich auch toll!“
„Macht euch keinerlei Sorgen, sondern bringt alle eure Anliegen im Gebet mit Bitte und Danksagung vor Gott! Und der Frieden Gottes, der alle menschlichen Gedanken weit übersteigt, wird euer Herz und euer Denken in Christus Jesus bewahren.“ (Philipper 4,6-7 NEÜ)
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