…wenn ihr nicht werdet wie die Kinder
Matthäus 18,3
Tiefer geblickt
Von Esther Dymel-Sohl
„Mark, kom bielen“, ruft Hans-Heiner laut und wild gestikulierend durch den Saal. Der 5-jährige Mark ist eigentlich gerade auf dem Weg nach draußen in den Garten. Doch als er Hans-Heiner hört, bleibt er mitten im Lauf wie angewurzelt stehen, dreht sich um und rennt jubelnd auf seinen Freund zu. Denn wenn der ruft, bedeutet das nur eines: Mensch-Ärger-Dich-Nicht spielen. Hans-Heiner sitzt bereits am Tisch und hat das Spiel vor sich aufgebaut. Auch die Würfel liegen bereit: einer für ihn, einer für Mark. Hans-Heiner hat eine spastische Lähmung, hat der Papa Mark erklärt, und wohnt hier im Heim, seitdem seine Mutter vor acht Jahren gestorben ist. Er gehört mit seinen 56 Jahren zu den älteren Bewohnern. Glücklich setzt sich der kleine Mark ihm gegenüber und los geht’s. Jeden Tag spielen sie ihre Runde Mensch-Ärger-Dich-Nicht. Hans-Heiner strahlt ihn an. Dass ihm dabei ein wenig Spucke aus dem Mundwinkel tropft, stört beide nicht. Mit großen, unkontrolliert wirkenden Bewegungen würfelt Hans-Heiner und lässt Mark dann seine Spielfigur setzen. Er kann zwar das kleine Männchen nicht selbst bewegen, passt aber auf wie ein Luchs, dass Mark sich nicht verzählt. Denn das hat der in letzter Zeit immer öfters versucht.
Marks Vater leitet dieses Wohnheim, zu dem auch eine Werkstatt mit 8 Mitarbeitenden gehört. Hier leben sie, Mark, sein Papa, seine Mama, seine drei kleinen Geschwister und die insgesamt 15 Heimbewohnerinnen und -bewohner. „Wann ist denn jemand behindert?“, hatte Mark neulich von seinem Vater wissen wollen. Nach kurzem Nachdenken war seine Antwort: „Behindert ist jemand, der nicht alles so machen kann, wie andere es tun, weil ihn etwas daran hindert.“ Und damit war das Thema für Mark erledigt.
In der Werkstatt werden heute Vogelhäuschen für den kommenden Basar gebaut. Richard schraubt die Holzplatten zusammen. Sein Rücken verformte sich nach und nach so stark, dass er nun mit seinen 32 Jahren einen enormen Buckel hat und tief gebeugt nur nach unten schaut. Den Himmel sieht er nicht. Aber wenn Richard sich auf den Rücken legt, kann er den Horizont sehen. Manchmal macht er das zusammen mit Mark. Dann legen sie sich auf den Rasen und lachen dabei lauthals, weil sie das beide lustig finden.
„Schön dich zu sehen, mein Junge“, begrüßt Richard ihn und streicht ihm übers Haar. Mark blickt auf. „Cooles Vogelhaus. Machst du mir auch eins?“, will er wissen. Bevor Richard „Ja“ sagen kann, fängt Carola im Rollstuhl an zu schreien. „Oh, oh, wieder eine Schreiattacke, ich geh spielen“, ruft Mark und rennt raus. Zwei Mal am Tag muss Carola schreien. „Was von alleine kommt, geht auch von alleine“, sagt Richard immer und erträgt ohne sichtbare Gemütsregung die Fünfminutenschreiattacke.
Auch die anderen Bewohner haben so ihre Eigenarten. Da ist Madita mit ihren schrägen Augen und ihrem lieben Wesen, die für Mark immer einen Bonbon in der Tasche hat und die es nicht mag, wenn man sie ärgert. Bernd, der Madita gerne zur Weißglut bringt und ständig blinzeln muss, auch wenn die Sonne gar nicht scheint und Alex, der in seinem Rollstuhl sitzt und den ganzen Tag mit seinem Oberkörper vor und zurück wippt. Manchmal setzt Mark sich neben ihn und wippt auch vor und zurück, nur so zum Spaß. Mit Gertrud kann er gut malen, Olli erzählt seine Märchengeschichten von Magiern und Fakiren so lebendig, als hätte er sie selbst erlebt, Anne singt den ganzen Tag, ob man es nun hören will oder nicht und Erika fängt schnell an zu weinen. „Da muss du ihr nur ein Taschentuch geben“, erklärt Mark dem neuen Hausmeister, der draußen ratlos vor der schluchzenden Erika steht und nicht weiß, was er machen soll. Dabei hatte er sie nur gebeten, den Müll raus zu bringen. Mark hat immer ein Taschentuch dabei. „Für alle Fälle“, sagt er.
„Ich muss schnell noch zum Rathaus, bevor die ihre Mittagspause machen“, ruft Marks Vater und schnappt sich den Autoschlüssel. Mark will unbedingt mit. Selten hat er seinen Papa nur für sich alleine. Und so steigen sie ein, Vater und Sohn, und beide genießen die Gegenwart des anderen, schweigend und ganz nach Männerart.
Auf den Straßen herrscht viel Verkehr und die Autos schieben sich nur langsam vorwärts. Mark beobachtet die Menschen, die auf den Bürgersteigen hin- und herlaufen, als hätte man sie zu schnell vorgespult. Eine Mutter zerrt an ihrem Kind, das sich die Spielzeugauslagen in einem Schaufenster anschauen möchte. Mark hat Mitleid mit dem kleinen Mädchen, das ein gelbes Regencape trägt und damit aussieht wie ein kleiner Engel. Zumindest hat Mark sich kleine Engel immer so vorgestellt. ‚Lass sie doch gucken’, würde er am liebsten laut rufen. Die Verkehrsampel wird rot, die Autos bleiben stehen. Ein Obdachloser liegt auf einer Parkbank und schläft, während sich sein Kumpel den Rest einer Flasche Rotwein in den Mund kippt. Eine müde dreinblickende Kellnerin bedient ein vor sich hinstarrendes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Teilnahmslosigkeit ist in den Gesichtern der vorbeilaufenden Passanten zu lesen. Niemand grüßt den anderen, niemand sagt freundlich „Guten Tag“. Alle rennen aneinander vorbei, wortlos, freudlos, leer.
Mark schaut zu, sieht genau hin und saugt alles in sich auf. Schließlich schüttelt er den Kopf und sagt mit seiner hellen Kinderstimme: „Papa, guck mal!“
„Was gibt es denn zu sehen?“
„Guck mal, die Leute hier!“
„Was ist denn mit den Leuten?“
„Ja guck doch mal, die Leute hier! Die sind alle behindert!“
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